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Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bei befristeten Arbeitsverhältnissen

Freitag, 14.07.2023

Das Bundesarbeitsgericht hat in einem viel kommentierten Urteil im Jahr 2021 entschieden, dass ernsthafte Zweifel an einer tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit bestehen, wenn Arbeitnehmer:innen das Arbeitsverhältnis kündigen und gleichzeitig eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses vorlegen. Sofern es Arbeitnehmer:innen nicht gelingt, die Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit zu beseitigen, besteht kein Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.

Das Landesarbeitsarbeitsgericht Niedersachsen hat jüngst in einer ähnlichen Fallkonstellation anders entschieden.

Die Klägerin war als Pflegekraftkraft befristet bei der Beklagten angestellt. In den letzten Wochen vor Ende des Arbeitsverhältnisses war die Klägerin fast durchgehend krankgeschrieben und hatte aufgrund von Ausgleichstagen und freien Tagen im Dienstplan keine Arbeitsleistung mehr erbracht.

Für den letzten Monat des Arbeitsverhältnisses leistete der Arbeitgeber wegen Zweifeln an der tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit keine Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Die klagende Arbeitnehmerin forderte die entsprechende Zahlung und bekam sowohl vor dem Arbeitsgericht Hameln als auch vor dem Landesarbeitsgericht Niedersachsen recht.

Wochenlangen Krankschreibung vor dem Ende des Arbeitsverhältnisses begründet keine ernsthaften Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit

Das Landesarbeitsgericht Niedersachen führt in seiner Begründung aus, dass in dem vorliegenden Fall keine vergleichbare Situation wie in dem genannten Urteil des Bundesarbeitsgerichts gegeben war. Ernste Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit aufgrund der Umstände lagen hier nicht vor: Die Klägerin hatte keine durchgängige, sondern mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt. Außerdem endete das Arbeitsverhältnis nicht aufgrund einer Eigenkündigung, sondern wegen der Befristungsabrede. Hinzu kam auch, dass die Klägerin nicht passgenau für die letzten sechs Wochen, also die gesamte Dauer des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung, krankgeschrieben war, sondern erst fünf Tage nach Beginn der letzten sechs Wochen des Arbeitsverhältnisses. Weiterhin kam der Klägerin zugute, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen durch denselben Arzt ausgestellt worden waren und es sich bei der zweiten und dritten Bescheinigung um Folgebescheinigungen handelte.

Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Niedersachen macht deutlich, dass es keine einfache Formel gibt, anhand derer zu beurteilen ist, ob ernsthafte Zweifel an einer Arbeitsunfähigkeit bestehen oder nicht. Wie so oft ist individuelle Gesamtbetrachtung vorzunehmen, die sämtliche Umstände des Arbeitsverhältnisses und der Krankheitszeiträume berücksichtigt.

Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 22.02.2023 – 8 Sa 713/22