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EuGH erweitert Kün­di­gungs­schutz für Schwer­be­hin­derte

Montag, 07.03.2022

Ähnlich wie der allgemeine Kündigungsschutz für Arbeitnehmer, beginnt auch der Sonderkündigungsschutz für Schwerbehinderte erst, wenn ein Arbeitsverhältnis schon mindestens sechs Monate lang bestanden hat. Dies ergibt sich aus § 173 Abs. 1 Satz 1 SGB IX.

In einem aktuellen Urteil hat der europäische Gerichtshof (EuGH) nun jedoch festgestellt, dass die Kündigung von Arbeitnehmer:innen mit Schwerbehinderung auch in der Probezeit nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig ist .

 

 

Der EuGH hatte über folgenden Fall zu entscheiden: Die HR Rail SA, die einzige Arbeitgeberin der Bediensteten der belgischen Eisenbahn, hatte einem Gleisarbeiter während der Probezeit gekündigt.

Der Gleisarbeiter hatte nach Beginn des Arbeitsverhältnisses einen Herzschrittmacher erhalten, weshalb ihm eine Schwerbehinderung attestiert wurde. Weil der Herzschrittmacher zudem sensibel auf die elektromagnetischen Felder in Gleisanlagen reagieren kann, konnte der Arbeitnehmer nicht mehr als Gleisarbeiter beschäftigt werden. Die Arbeitgeberin beschäftigte ihn daraufhin zunächst gearbeitet, kündigte das Arbeitsverhältnis dann jedoch während der Probezeit mit einer Frist von 2 Wochen.

Der Arbeiter klagte vor einem belgischen Arbeitsgericht und machte geltend, wegen seiner Behinderung diskriminiert worden zu sein. Seine Kündigung widerspreche der europäischen Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie (Richtlinie 2000/78/EG). Art. 5 dieser Richtlinie sieht vor, dass der Arbeitgeber „angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen“ treffen muss. Dazu gehöre auch die Beschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz, sofern diese Möglichkeit besteht, argumentierte der Arbeitnehmer in dem vom EuGH entschiedenen Fall.

Der EuGH gibt dem Arbeitnehmer nun recht: Arbeitgeber:innen seien verpflichtet, schwerbehinderte Beschäftigte auf einer anderen freien Stelle einzusetzen, für die sie die notwendige Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit haben. Das gelte auch dann, wenn sich der oder die Arbeitnehmer:in noch in der Probezeit befindet. Dies gelte allerdings nur, sofern der oder die Arbeitgeber:in durch diese Maßnahme nicht unverhältnismäßig belastet wird. Maßgebliche Kriterien seien hierbei der finanzielle Aufwand sowie die Größe, die finanziellen Ressourcen und der Gesamtumsatz der Organisation oder des Unternehmens und die Verfügbarkeit von öffentlichen Mitteln oder anderen Unterstützungsmöglichkeiten.

Auswirkungen auf das deutsche Arbeitsrecht?

Das Urteil des EuGH beeinflusst auch das deutsche Arbeitsrecht.  In Zukunft werden Unternehmen auch bei einer Probezeit Kündigung eines oder einer Arbeitnehmer:in mit Schwerbehinderung künftig zuvor prüfen müssen, ob nicht die Beschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz im Unternehmen in Betracht kommt. Auch erforderliche Umschulungen oder Fortbildungen müssten hier in Betracht gezogen werden, wenn sie den oder die Arbeitgeber:in nicht „unverhältnismäßig belasten“. Die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte bleibt hier abzuwarten.

 

EuGH Urteil vom 10.2.2022, C-485/20 HR Rail