Whistleblowing – nun ein Fall für den Gesetzgeber
Der „Whistleblower“ ist in den letzten Jahren zu einem arbeitsrechtlichen Begriff geworden, der insbesondere kündigungsrechtlich relevant ist. Ein Whistleblower ist ein Arbeitnehmer, der Missstände wie illegales Handeln (z. B. Korruption, Steuerhinterziehung) oder allgemeine Gefahren, von denen er an seinem Arbeitsplatz erfährt, an die Öffentlichkeit bringt. Verschiedene Skandale wie z.B. um Gammelfleisch, die fehlerhaften Statistiken der Bundesagentur für Arbeit oder Korruptionsvorfälle in der deutschen Industrie wären ohne Whistleblower nicht an die Öffentlichkeit gelangt. Die handelnden Personen haben eines gemeinsam: sie haben ihren Arbeitsplatz verloren.
Im Gegensatz zu den USA oder Großbritannien genießen Whistleblower in Deutschland weder gesetzlichen Schutz noch moralische Unterstützung. Während in den USA schon 2002 drei Whistleblower vom Time Magazine zur Person of the Year gekürt wurden, steht in Deutschland meist die Loyalitätsverletzung im Blickpunkt bzw. der Arbeitnehmer wird als Denunziant gesehen. Natürlich steht Whistleblowing im Spannungsfeld zwischen Loyalität zum Arbeitgeber und Öffentlichem Interesse an der Aufklärung von Missständen. Nach bisheriger Rechtsprechung war die Rechtslage unklar und verlagerte die Risiken weitgehend auf den Arbeitnehmer.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat durch seine Entscheidung vom 21.7.2011 die Rechte von Whistleblowern wesentlich gestärkt und die Bundesrepublik Deutschland wegen der Verletzung der Meinungsfreiheit zu Schadensersatz verurteilt. Hintergrund war der Fall der Berliner Altenpflegerin Brigitte H., die bei Vivantes beschäftigt war. 2004 wies sie ihren Arbeitgeber auf Missstände in dem Pflegeheim hin, in dem sie beschäftigt war. Als sich die Situation nicht besserte wand sich ihr Anwalt in ihrem Namen erneut an das Management. Obwohl zwischenzeitlich auch der medizinische Dienst der Krankenkassen die Mängel anprangerte, passierte nichts. Im Dezember 2004 zeigte Frau H. ihren Arbeitgeber wegen besonders schweren Betruges an. Daraufhin wurde sie 2005 fristlos entlassen. Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen gegen Vivantes ein.
Die Kündigungschutzklagen vor dem LAG Berlin Brandenburg und dem BAG hatten keinen Erfolg. Eine Verfassungsbeschwerde wurde nicht zugelassen. Die Kündigung sei wegen Verletzung der Loyalitäts- und Fürsorgepflicht dem Arbeitgeber gegenüber wirksam. Allerdings wand sich Frau H. zuletzt an den Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Dieser entschied am vergangenen Donnerstag und verurteilte die Bundesrepublik Deutschland wegen Verletzung der Meinungsfreiheit und verurteilte sie zu einer Entschädigungszahlung von 10.000 Euro.
Diese Entscheidung ist richtungweisend und gibt sogenannten Whistleblowern stärkere Rechte. Unmittelbare Folgen hat das Urteil zunächst für Vivantes, das die Vergütung für die vergangenen 7 Jahre nachzahlen und Frau H. weiterbeschäftigen muss.
Zudem sind die deutschen Arbeitsgerichte gehalten, sich in ihrer Rechtsprechung europarechtskonform zu verhalten. Nach Auffassung des EGMR kann eine Kündigung nicht ausgesprochen werden, solange der Arbeitnehmer die Missstände zunächst bei seinem Arbeitgeber anzeigt. Zudem muss ihre Veröffentlichung im öffentlichen Interesse liegen und der Arbeitnehmer muss in gutem Glauben handeln. Dann kann der Arbeitnehmer sich ungestraft an die zuständige Behörde wenden. Irrelevant ist, ob die Strafanzeige tatsächlich berechtigt war. Denn von einer Person, die Strafanzeige erstattet, kann nicht verlangt werden, vorauszusehen, ob die Ermittlungen zu einer Anklage führen oder eingestellt werden.
Nachdem bereits die Grünen und die SPD an Gesetzesentwürfen arbeiten, wird nach dem Urteil des EGMR wohl auch die Regierung tätig werden müssen. Eine erste Stellungnahme der Bundesjustizministerin zeigt, dass zumindest eine lebhafte Diskussion, wie man mit Whistleblowing umgeht, erwartet wird. Denn auch wenn sich der Arbeitgeber auf die Loyalität seiner Mitarbeiter verlassen muss, gibt es auf der anderen Seite ein öffentliches Interesse an Information über Missstände.
Für die Arbeitnehmerseite bedeutet dies mehr Rechtssicherheit im Arbeitsleben.
Dem Arbeitgeber ist zu empfehlen, auf innerbetriebliche Anzeigen sensibel zu reagieren, um einer Anzeige und auch einer ggf. unwirksamen Kündigung vorzubeugen.
Volltext des Urteils zum Download (PDF) von den Offiziellen Seiten des EGMR