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Scheinselbstständigkeit eines Sportfotografen

Donnerstag, 19.05.2022

Immer wieder kommt es vor den Arbeitsgerichten auf die Frage der Scheinselbstständigkeit an. Die Gerichte müssen dann entscheiden, ob jemand tatsächlich in freier Mitarbeit oder stattdessen als Arbeitnehmer:in beschäftigt wurde. Die Entscheidung hat für beide Seiten erhebliche Konsequenzen. Von ihr hängt beispielsweise die Frage ab, ob gegebenenfalls für mehrere Jahre Sozialversicherungsbeiträge nachgezahlt werden müssen. Auch beim Kündigungsschutz hängt alles von der Einordnung als Arbeitnehmer:in statt als freie/r Mitarbeiter:in ab. Scheinselbstständigkeit kann sogar zu strafrechtlichen Folgen für die Geschäftsführung der Arbeitgeberin führen. Beschäftigte Personen können ihren Status bei der Deutschen Rentenversicherung Bund mit dem Statusfeststellungsverfahren zumindest bezüglich der Sozialversicherungsbeiträge klären.

Im aktuellen Fall des Bundesarbeitsgerichts wehrte sich ein Sportfotograf gegen die Kündigung seiner Auftraggeberin, für die er seit 1990 durchgängig tätig war. Während der klagende Fotograf am Anfang seiner Tätigkeit nach der Anzahl der Fotos bezahlt wurde, wechselte die Bezahlung später in eine monatliche, pauschale Summe. Die Arbeitgeberin bot dem Kläger 2018 einen „Vertrag für freie Mitarbeiter“ zu veränderten Bedingungen an. Nachdem der Kläger das Angebot abgelehnt hatte, kündigte die Arbeitgeberin den Vertrag mit ihm. Der Fotograf war der Ansicht, Arbeitnehmer zu sein, und griff die Kündigung vor dem Arbeitsgericht an. Die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV) stellte während des Kündigungsschutzverfahrens fest, dass zwischen den Parteien kein Arbeitsverhältnis bzw. keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung bestünde.

Müssen sich die Arbeitsgerichte an die Einschätzung der Deutschen Rentenversicherung Bund halten?

Das BAG ist genau wie die übrigen Arbeitsgerichte an die Entscheidung der Deutschen Rentenversicherung nicht gebunden. Auch wenn ein unanfechtbarer Bescheid der Rentenversicherung vorliegt, dass keine sozialversicherungspflichte Beschäftigung und damit kein Arbeitsverhältnis ausgeübt wurde, können die Arbeitsgerichte genau gegenteilig entscheiden.

Scheinselbstständigkeit wird stark einzelfallabhängig beurteilt

Das BAG betont in seiner Entscheidung, dass für die Frage der Scheinselbstständigkeit alle relevanten Umstände zu berücksichtigen sind. Die einzelnen relevanten Indizien lassen sich nicht generell hierarchisch ordnen. Die Arbeitsgerichte müssen die einzelnen Umstände aber nachvollziehbar gewichten und auf dieser Grundlage zu einem Gesamtergebnis kommen. Wie es häufig der Fall ist, gab es auch hier einerseits Indizien für ein Arbeitsverhältnis und andererseits Anhaltspunkte für eine freie Mitarbeit. Für ein Arbeitsverhältnis sprach die pauschale Entlohnung und der vorhandene dienstliche E-Mail-Account. Für eine freie Mitarbeit sprach dagegen, dass der Fotograf nicht in Dienstpläne eingeteilt wurde und ausdrücklich die Möglichkeit hatte, für andere Auftraggeber tätig zu werden. Das Landesarbeitsgericht hatte überwiegende Indizien für ein Arbeitsverhältnis gesehen und war so tatsächlich zu einem anderen Ergebnis als die Deutsche Rentenversicherung gekommen. Mangels nachvollziehbarer Gewichtung der einzelnen Indizien durch das LAG hat das BAG das Verfahren jedoch wieder an ersteres zurückverwiesen.

Praxishinweis:

Wegen der teilweise unvorhersehbaren Entscheidungen zum Thema Scheinselbstständigkeit im Einzelfall sollten sich betroffene Arbeitgeber:innen oder „freie Mitarbeiter“ zu ihrer Rechtslage und dem weiteren Vorgehen beraten lassen. Bei der Vertragsgestaltung und vor allem bei der Durchführung von freien Dienstverträgen im Grenzbereich zum Arbeitsverhältnis sollte angesichts der schwerwiegenden Folgen von Fehlern möglichst umsichtig gehandelt werden.

BAG, Urteil vom 30.11.2021, 9 AZR 145/21