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Die Rückkehr der betriebsbedingten Kündigung

Dienstag, 29.10.2024

In den letzten Jahren spielte die betriebsbedingte Kündigung in unserer arbeitsrechtlichen Praxis eine immer geringere Rolle. Der Fachkräftemangel und die generell gute Lage am Arbeitsmarkt führten dazu, dass Unternehmen seltener Kündigungen aussprachen und Beschäftigte leichter eine neue Anstellung fanden. Dies spiegelte sich auch in einem Rückgang der Kündigungsschutzklagen wider.

Diese Situation ändert sich jedoch derzeit deutlich. In den vergangenen sechs Monaten haben wir vermehrt Massenentlassungen und Betriebsschließungen begleitet. Selbst kleinere Unternehmen erkennen nun Personalüberhänge und reagieren mit Aufhebungsverträgen oder betriebsbedingten Kündigungen.

Aktuelle Entwicklungen und Statistiken

Aktuelle Zahlen untermauern diesen Trend. Im Jahr 2023 sind die Gewerbeabmeldungen und Betriebsaufgaben im Vergleich zum Vorjahr um 8,3 % gestiegen, was häufig zu Entlassungen führt. Die Zunahme betriebsbedingter Kündigungen spiegelt sich auch in der Auslastung der Arbeitsgerichte wider. Laut dem Statistischen Bundesamt sind die Eingangszahlen bei Arbeitsgerichten in Deutschland 2022 gestiegen. Am Arbeitsgericht Berlin hat sich die Verfahrensdauer erheblich verlängert; Kammertermine werden oft erst für den Sommer 2025 angesetzt.

Personalabbau bei großen Unternehmen

Große Unternehmen wie Amazon oder Siemens haben bedeutende Personalabbaumaßnahmen eingeleitet, häufig begleitet von Abfindungszahlungen, um die Entlassungen sozialverträglicher zu gestalten. Siemens bot im Rahmen von Umstrukturierungen großzügige Abfindungspakete an, während Amazon hohe Abfindungen zahlte, um freiwillige Austritte zu fördern.

Auch in Berlin gab es 2024 mehrere bemerkenswerte Fälle von Personalabbau. Prominente Beispiele sind Zalando, Bringmeister und Delivery Hero. In Brandenburg ist besonders der geplante Stellenabbau bei Tesla erwähnenswert: Im Werk in Grünheide sollen rund 3.000 der insgesamt 12.500 Stellen gestrichen werden. Diese Entwicklungen zeigen, dass selbst große und bekannte Unternehmen gezwungen sind, ihre Belegschaften zu verkleinern, um auf veränderte Marktbedingungen und wirtschaftliche Herausforderungen zu reagieren.

Veränderungen in der Startup-Szene

Besonders in Berlin ist dieser Wandel spürbar. Viele Startups, die in den letzten Jahren ihr Personal stark aufgestockt haben, passen nun ihre Belegschaften wieder an und bauen Stellen ab. Diese Maßnahmen werden oft von Abfindungen begleitet, um den Mitarbeitenden faire Beendigungspakete zu bieten. In den vergangenen Jahren wurden solche Personalentscheidungen durch Corona-Hilfen und Kurzarbeit aufgeschoben; nun kehren viele Unternehmen zu Personalständen von vor zwei bis drei Jahren zurück.

Aufhebungsverträge versus betriebsbedingte Kündigungen

Unternehmen bevorzugen häufig Aufhebungsverträge, da sie sozialverträgliche Beendigungen ermöglichen und Kündigungsschutzklagen vermeiden. Große Unternehmen schnüren dafür attraktive Abfindungspakete, um langwierige Prozesse zu umgehen. In kleinen und mittelständischen Unternehmen orientieren sich die Abfindungsangebote hingegen oft an der üblichen Faustformel von 0,5 Bruttomonatsgehältern pro Beschäftigungsjahr. Dies führt häufiger dazu, dass keine einvernehmliche Lösung erreicht wird und die betriebsbedingte Kündigung die Alternative darstellt.

Wann ist eine betriebsbedingte Kündigung zulässig?

Die Frage nach den Voraussetzungen für eine betriebsbedingte Kündigung stellt sich somit immer häufiger. Die wesentlichen Punkte sind:

  1. Dringende betriebliche Erfordernisse: Es muss eine unternehmerische Entscheidung vorliegen, die zum dauerhaften Wegfall bestimmter Arbeitsplätze führt – etwa durch Auftragsrückgang, Umstrukturierungen oder Betriebsschließungen.
  2. Sozialauswahl: Der Arbeitgeber muss eine sozial gerechtfertigte Auswahl unter vergleichbaren Arbeitnehmer

treffen. Kriterien sind Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung. Hier liegt oft der Schwerpunkt der Vorbereitung und der größte Angriffspunkt für betroffene Beschäftigte.

  1. Keine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit: Der Arbeitgeber muss prüfen, ob eine Weiterbeschäftigung auf einem anderen freien, auch geringer bewerteten Arbeitsplatz im Unternehmen möglich ist. Selbst weniger attraktive Positionen müssen angeboten werden; der Arbeitnehmer kann dann entscheiden, ob er diese annimmt.
  2. Verhältnismäßigkeit: Vor der Kündigung müssen mildere Mittel wie Versetzungen oder Kurzarbeit in Betracht gezogen werden.

Massenentlassungsanzeige und Beteiligung des Betriebsrats

Auch in kleineren Unternehmen muss geprüft werden, ob eine Massenentlassungsanzeige erforderlich ist. Diese ist nötig, wenn innerhalb von 30 Tagen eine bestimmte Anzahl von Kündigungen geplant ist – abhängig von der Betriebsgröße:

  • 20 bis 59 Beschäftigte: ab 5 Entlassungen
  • 60 bis 499 Beschäftigte: ab 10 % der Belegschaft oder mindestens 25 Personen
  • 500 oder mehr Beschäftigte: ab 30 Entlassungen

Die Massenentlassungsanzeige muss vor Umsetzung der Kündigungen bei der Agentur für Arbeit eingereicht werden. Die Kündigungen sind erst wirksam, wenn die Anzeige dort eingegangen ist.

Ist ein Betriebsrat vorhanden, müssen oft ein Interessenausgleich und ein Sozialplan verhandelt werden:

  • Interessenausgleich: Eine Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat, die regelt, ob und wie die Betriebsänderung durchgeführt wird. Ziel ist es, negative Folgen für die Belegschaft zu mildern oder zu verzögern.
  • Sozialplan: Dient dazu, wirtschaftliche Nachteile für die betroffenen Arbeitnehmer

abzufedern, etwa durch Abfindungen, Fortbildungsmaßnahmen oder Unterstützung bei der Arbeitsplatzsuche.

Kündigungsschutzverfahren als Option

Auch wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind, haben Arbeitnehmer

die Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit der betriebsbedingten Kündigung überprüfen zu lassen. Der Ablauf ist meist wie folgt:

  1. Klageerhebung: Innerhalb von drei Wochen nach Erhalt der Kündigung muss Klage beim Arbeitsgericht eingereicht werden.
  2. Gütetermin: Das Gericht versucht, eine Einigung zu erzielen – oft in Form eines Vergleichs oder einer Abfindung.
  3. Kammertermin: Scheitert die Einigung, wird die Rechtmäßigkeit der Kündigung umfassend geprüft.
  4. Urteil: Das Gericht entscheidet, ob die Kündigung wirksam oder unwirksam ist.

Fazit

Mit guter Vorbereitung und Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben können Unternehmen das Risiko von Kündigungsschutzklagen deutlich reduzieren. Dennoch ist die betriebsbedingte Kündigung in der Regel mit einer Abfindungszahlung verbunden. Unternehmen möchten die Risiken eines langen Verfahrens und einer möglichen Weiterbeschäftigung vermeiden, während Arbeitnehmer:innen das Kapitel abschließen und sich neuen Herausforderungen stellen möchten.

Interessanterweise ist die Situation in Deutschland nicht so anders wie in vielen europäischen Ländern, in denen es gesetzliche Abfindungsregelungen für betriebsbedingte Kündigungen gibt:

  • Spanien: Anspruch auf 20 Tage Lohn pro Beschäftigungsjahr, maximal 12 Monatsgehälter.
  • Frankreich: Mindestens 1/4 Monatsgehalt pro Beschäftigungsjahr; ab dem 11. Jahr 1/3 Monatsgehalt pro Jahr.
  • Italien: Etwa 1/2 Monatsgehalt für jedes Beschäftigungsjahr.
  • Portugal: 12 Tage Lohn pro Jahr, mit bestimmten Obergrenzen.

Die betriebsbedingte Kündigung ist also wieder ein aktuelles Instrument, um Personalbedarf zu regulieren. Wenn sie korrekt durchgeführt wird, können Unternehmen ihre Strukturen anpassen, während die wirtschaftlichen Nachteile für die Arbeitnehmer:innen durch Abfindungen abgemildert werden.